Von wegen
Ruhe-Stand: Auch nach dem wohl härtesten, mit Sicherheit aber
aufwühlendsten und vor allem letzten Tag ihrer großen Karriere hatte die
notorische Powerfrau
Angelique Kerber noch reichlich Kraft im Körper.
Bis fast zur Sperrstunde weit nach Mitternacht feierte Kerber im
Deutschen Haus den Eintritt in die Tennisrente, kostete noch einmal alle
Emotionen aus. Auch dabei wurde deutlich, dass sie sportlich wie
menschlich schwer vermisst werden wird.
"Es war ein schöner
Abschluss, ein toller Abend mit dem Team und den ganzen Fans hier. Vor
allem wenn man noch so unter Adrenalin ist, geht noch einiges", erzählte die 36-Jährige am Morgen danach lachend: "Heute aber spüre ich alles in meinem Körper, jeden Muskel, jede Sehne."
Kein Wunder, hatte Kerber doch am Mittwoch beim dreistündigen 7:6, 4:6, 6:7 im Viertelfinale gegen die Chinesin Zheng Qinwen
erneut und endgültig "alles auf dem Platz gelassen" - die Lieblings-
und Dauerfloskel Kerbers in diesen Pariser Tagen, in denen ihre seit dem
Comeback nach der Babypause versandende Karriere noch einmal Fahrt
aufgenommen hatte. Am Tag nach den Tagen wurde Tennis-Deutschland dann
allmählich bewusst, dass die Lücke, die der Rücktritt der ehemaligen
Weltranglistenersten reißt, doch gewaltig groß ist.
Kerber hinterlässt Lücke im deutschen Frauen-Tennis
"
Sie
war nicht nur im deutschen Tennis sondern auch global eine der besten
Spielerinnen der vergangenen zwei Dekaden. Sie wird sicher in die Hall
of Fame aufgenommen", sagte ihre langjährige Weggefährtin
Andrea Petkovic dem SID im Deutschen Haus: "
Ihr einziges Pech war, dass sie die nächstbeste Spielerin nach Steffi Graf war und sie mit dieser noch unglaublicheren Karriere verglichen wurde." Tokio-Olympiasieger Alexander Zverev sieht Kerber als "
eine der Top-Spielerinnen, die die Chance hatten, jedes Turnier zu gewinnen, wo sie antreten." Und das fehle laut Zverev dem deutschen Frauen-Tennis nun.
Die Bestandsaufnahme macht trübsinnig: Die beiden bestplatzierten Spielerinnen in der Weltrangliste,
Tatjana Maria (67.) und
Laura Siegemund (92.), sind 36 Jahre alt.
Jule Niemeier (24) und
Tamara Korpatsch (29) haben den entscheidenden Schritt (bislang) nicht geschafft,
Eva Lys (22),
Ella Seidel (19) oder Noma Noha Akugue (20) müssen ihn bald gehen. "Wir
haben viele junge Talente, die gut spielen. Aber wir müssen geduldig
sein. Es wird vielleicht eine kleine Lücke entstehen, aber es werden
viele nachkommen", sagte Kerber: "Der Prozess dauert, das geht nicht von heute auf morgen."
Das Leben nach dem Tennis beginnt nun
Der Deutsche
Tennis-Bund hofft, dass sich Kerber am Prozess beteiligt, trug noch in
Paris den Wunsch nach Zusammenarbeit an sie heran. Rolle? Offen. "Ich
muss jetzt erstmal ein bisschen frei machen. Dann können wir uns
hinsetzen und ich höre es mir gerne an", sagte Kerber.
Ihre ersten Tage im neuen Lebensabschnitt will sie in Paris genießen, "mal zum Beachvolleyball gehen, weil die Kulisse toll sein muss, und zum Schwimmen".
Die Flieger mit ihren Ex-Kolleginnen in Richtung Kanada und USA, wo die
Hartplatzsaison beginnt, heben ohne sie ab. "Angie" hat frei. Nach 21
Jahren ist das fein.