Mit
Angelique Kerber hört nach Olympia 2024 jene Spielerin auf, auf die das deutsche Frauentennis fast eine Dekade lang stets zählen durfte.
Auf dem Gruppenfoto zur olympischen Tennis-Auslosung lächelte
Angelique Kerber am Donnerstagmittag in äußerst prominenter
Nachbarschaft. Sie war eingerahmt von Andy Murray und Rafael Nadal, zwei
der ehrenwerten Gentlemen aus der Gruppe der legendären Big Four - und
beide Olympiasieger. In jenem Moment war eine spektakuläre, wenn auch
nicht überraschende Botschaft eine gute Stunde alt, die Ankündigung von
Kerber, ihre erstaunliche Karriere nach den Olympischen Spielen beenden
zu wollen. Paris 24 werde die „Ziellinie“, verkündete Kerber über ihre
Social Media-Accounts, „und auch wenn dies tatsächlich die richtige
Entscheidung sein könnte, wird es sich nie so anfühlen: Ganz einfach,
weil ich den Sport von ganzem Herzen liebe und dankbar bin für die
Möglichkeiten, die er mir gegeben hat.“
Vieles an diesem Bildmotiv
und dem Statement zur „härtesten Entscheidung“ ihres Lebens war
natürlich verblüffend. Denn kaum jemand wäre vor zehn, fünfzehn Jahren
auf die Idee gekommen, dass Kerber einmal völlig zurecht mit anderen
herausragenden Figuren ihres Sports auf einem solchen Foto posieren
würde. Und dass sie dem Hochleistungstennis eine solch hymnische
Betrachtung zurufen würde, schliesslich hatte Kerber im Sommer des
Jahres 2011 nach einem Erstrunden-Desaster in Wimbledon ernsthaft mit
dem Gedanken gespielt, ihre Tennis-Laufbahn abzubrechen und etwas zu
tun, „mit dem ich wirklich glücklich bin.“ Dass alles ganz anders kam,
zeigte auch für Kerber im nachhinein, „welche unglaublichen Zufälle und
Kleinigkeiten manchmal das ganze Leben verändern können.“ In ihrem Fall
war es damals das gute Zureden ihrer engsten Tourfreundin Andrea
Petkovic, die mehr an Kerber glaubte als die an sich selbst.
Becker würdigt Kerber
Kerber überholte schnell und durchaus
sensationell alle aus der goldenen deutschen Generation, Freundin
Petkovic, aber auch Julia Görges oder Sabine Lisicki. Und 2016 war dann
so etwas wie ein Erweckungsjahr für die heute 36-jährige Kielerin, die
auf dem langen Marsch in die Weltspitze ihren ersten großen Coup mit dem
Australian Open-Titel gegen Serena Williams landete. Jenes Jahr war
auch das mit Abstand beste für Kerber, die bei den Spielen von Rio
Silber gewann und sich dann auch zur
US Open-Königin krönte. Als sie
gleichzeitig zur Nummer 1 der Welt ausgerufen wurde, sagte Tenniskanzler
Boris Becker einen sehr richtigen Satz: „Angie Kerber hat Deutschland
wieder auf die Landkarte unseres Sports zurückgebracht.“ Er, der
sechsmalige Grand-Slam-Champion, war im Hier und Jetzt nun auch einer
der ersten Gratulanten der Bald-Ruheständlerin: „Liebe Angie, großes
Kompliment für Deine Karriere. Du bist ein Vorbild für alle jungen
Frauen.“
In puncto Hartnäckigkeit, Willensstärke und Widerstandskraft konnten sich tatsächlich alle aus den Generationen nach Graf, Becker und Co. etwas vom zähen Nordlicht abschneiden. Jener Frau, die allen Rückschlägen, Enttäuschungen und Zweifeln trotzte, um sich ihren allergrößten Lebenstraum zu erfüllen, nämlich den Triumph auf dem Heiligen Rasen von Wimbledon. Dieser historische Moment kam vor sechs Jahren, und zwar nicht gegen irgendeine Überraschungsgegnerin, sondern gegen die Überfrau des Frauentennis in den letzten beiden Jahrzehnten – Serena Williams. Mit keinem anderen Turnier verband sich für Kerber so viel Scheitern, aber dann eben auch das finale Glück des Jahres 2018. „Wimbledon war ein Lebensziel. Kein Sprint, sondern ein Marathon mit manchen Höhen, aber auch echten Tiefen“, sagte Kerber einmal in den Tagen nach diesem persönlichen Höchstpreis.
Kerber - “Ich werde es genießen”
Viele Jahre war Kerber wie
selbstverständlich in der Weltspitze dabei, sie kämpfte auch in allen
möglichen Teamwettbewerben unter deutscher Flagge. „Eine unglaubliche
Botschafterin“ für das nationale Tennis sei die ehemalige
Weltranglisten-Erste gewesen, so Ex-Bundestrainerin Barbara Rittner:
„Angie war oft der Fels in der Brandung.“ Ganz nebenbei allerdings auch
dies: Die Frau, die manche Schwächen des deutschen Frauentennis und
Lücken in der Talentsichtung übertünchte.
In den letzten Jahren
verschoben sich die Prioritäten für Kerber. Beim neu etablierten Bad
Homburger Tenniswettbewerb stieg sie ins Management ein, war als
Botschafterin „Mädchen für alles“ und verantwortliche Ansprechpartnerin
für die Kolleginnen. 2023 wurde sie zur Tennis-Mutter, Töchterchen Liana
war zur Welt gekommen. Schon damals sagte Kerber, die Aussicht, noch
einmal bei Olympischen Spielen starten zu können, beflügele ihre
Comeback-Ambitionen. Die Rückkehr auf die Centre Courts seit
Jahresbeginn verlief äußerst schwierig, die Erfolgserlebnisse blieben
rar.
Paris 2024 wird nun der letzte Tanz, auf dem wenig geliebten
sandigen Untergrund. Die Auslosung hat es nicht gut mit ihr gemeint,
Naomi Osaka, die viermalige
Grand Slam-Championesse, steht ihr in Runde
eins gegenüber. „Ich habe nichts zu verlieren. Ich werde es genießen“,
sagt Kerber. Und zwar mit Recht.