Kuriositäten, Turbulenzen, endlose Regenpausen und am Ende auch noch eine Vaterschaft – Die wechselvolle Geschichte von
Boris Becker in
Wimbledon und Britannien nach der Tenniskarriere.
Es ist eine leicht bizarre Szene, die sich am 30. Juni 1999 vor dem
Deutschen Haus in Wimbledon abspielt. Boris Becker hat gerade die kleine
Abschiedsparty nach seinem letzten großen Tennismatch verlassen.
Journalisten, Verbandsfunktionäre und Freunde haben ordentlich mit dem
dreimaligen Sieger des wichtigsten Turniers der Welt gebechert, es
herrschte wehmütige Abschiedsstimmung am Ende einer unvergleichlichen
Ära.
Nun soll es für Becker und sein Gefolge in die Londoner City
gehen, schon sitzt einer aus der Becker-Innung am Steuer. Aber weil
draußen vor dem angemieteten Gebäude des DTB einige TV-Teams
herumlungern, ändert Becker wie ein professioneller Regisseur die Szene.
Er will selbst in den Sonnenuntergang reiten mit den perfekten Bildern,
steigt deshalb aus, übernimmt symbolisch noch einmal das Steuer. Und
lenkt die davongleitende Limousine für die Kameras selbst weg, auch um
die nächste Ecke. Dort allerdings gibt es dann einen erneuten
Fahrerwechsel, auch zur allgemeinen Sicherheit der Insassen. Becker ist
wieder nur Beifahrer. Und im nächsten Moment sind dann alle weg.
Boris Becker als Meister des Comebacks
So vollzieht
sich die erste von mehreren Schlußpointen in London und Wimbledon 1999,
vor einem Vierteljahrhundert – bei Beckers letztem Tanz auf großer Grand
Slam-Bühne. Es wird noch eine weitere dramatische und folgenreiche
Geschichte geben, unbemerkt von der Öffentlichkeit – im Nobelrestaurant
„Nobu“, in dem der deutsche Tennis-Held dank eines nächtlichen
Techtelmechtels mit dem Model Angela Ermakova unversehens Vater einer
Tochter wird. Er wird es erst im Herbst jenes turbulenten Jahres
erfahren, als ihm ein Schreiben der Anwälte von Frau Ermakova ins Haus
flattert.
Eigentlich hatte sich Becker schon 1997 aus seinem
Wohnzimmer verabschiedet, nach dem Viertelfinal-Aus gegen den
siebenmaligen Champion Pete Sampras. „That´s it“ hatte er damals in
einer hastig einberufenen Pressekonferenz den mittelschwer geschockten
Reportern zugerufen. Anschließend hatte er sich das Ganze aber noch
einmal überlegt und beschlossen, „mit mehr Würde“ von dem Schauplatz zu
gehen, an dem er als Tennisspieler eigentlich geboren worden sei. Die
Geburtsstunde, das gewonnene Finale am 7. Juli 1985 gegen den
Südafrikaner Kevin Curren, ist seitdem ein sporthistorisches Datum in
der Republik, kein Fall für die Millionenfrage bei „Wer wird Millionär.“
Was
niemand so recht für möglich gehalten hat, tritt dann bei den
Championships 1999 ein: Becker, der zuvor eine zähe, langsame
Goodbye-Tournee quer über die Kontinente bestritten hatte, entpuppt sich
an dem für ihn magischen
Grand Slam-Ort noch mal als ernsthafter
Wettkämpfer. Und natürlich spielt das übliche Drama mit, die beinahe
theatralische Inszenierung. Gleich in der ersten Runde liegt Becker
gegen den schottischen Hochlandmeister Miles McLagan mit 0:2-Sätzen
zurück, ein Desaster ist in Sichtweite. Aber Becker ist nicht umsonst
als Meister der jähen Comebacks, der irren Drehungen und Wendungen
bekannt, als einer, der das Unmögliche möglich machen kann. Und so
erleben auf der Tribüne die schwangere Ehefrau Barbara und Beckers
Hilfstrupp schließlich einen harterkämpften 3:2-Erfolg gegen MacLagan,
bei dem er auch drei Matchbälle abzuwehren hat. Beckers ehemaliger Coach
Günther Bosch, als Kolumnist für eine Sonntagszeitung vor Ort, lächelt
auf der Tribüne, nur zu oft hat er selbst diese verrückten Geschichten
mit dem „roten Baron“ miterlebt.
Rafter dann doch zu stark
Am Ende der ersten Turnierwoche ist Becker um
zwei weitere Siege reicher, zwei nicht ganz selbstverständliche Siege.
Erst besiegt er seinen Landsmann Nicolas Kiefer, mit dem er sich seit
vielen Wochen und Monaten in seiner Eigenschaft als Davis Cup-Teamchef
herumstreitet, dann schlägt er auch noch den aufstrebenden Australier
Lleyton Hewitt - einen unglaublich kämpferisch, brutal schnell
umherflitzenden Fighter, der drei Jahre später dann selbst Wimbledon
gewinnen wird. Nach dem Coup gegen Hewitt wird Becker im grünen
Rasenreich hymnisch gefeiert, der „alte Löwe aus Leimen“ habe noch
einmal Zähne gezeigt, ist in der „Times“ zu lesen. Und als Becker von
der Anlage chauffiert wird, in eins von mehreren angemieteten Häusern,
bilden sich große Menschentrauben um die Limousine – Becker gibt aus dem
Wagen heraus immer wieder Autogramme. Manch einer aus Beckers Umgebung
fühlt sich an die glorreichen Siegerjahre erinnert.
Es wird allerdings etwas mühsam, als Becker sein Achtelfinalspiel gegen Weltklassemann Pat Rafter bestreiten soll – einen Grand Slam-Champion vom Fünften Kontinent. Denn Wimbledon 1999 ist auch einer jener vom Regen gebeutelten Jahrgänge, mit schier ewigen Pausen, Abbrüchen und Stop-and-Go-Tennis. Am zweiten Grand Slam-Montag, den alle in der Tenniswelt nur „Manic Monday“ wegen der kompletten Abwicklung aller Achtelfinals nennen, fällt die Partie aus. Auch am Dienstag geht nichts. Weshalb schon manche Reporter spotten, wenn es so weitergehe, dann sei Becker noch am Finalsonntag im Wettbewerb.
Soweit kommt es dann aber nicht. Am Mittwoch ist Beckers Wimbledon-Epoche beendet, Rafter läßt ihm in drei Sätzen keine Chance mehr. Becker wirkt nach der Verzögerungs-Arie matt, ausgelaugt und ohne Spannung. Aber er hat noch einmal bekommen, was er wollte: Anerkennung, Sympathie und Respekt. Und alles bei diesem zweiten Abschied aus dem Tennistempel wirkt viel leichter und entspannter, Niederlage hin und her. „Es ist, als habe einem großen, unsichtbaren Regisseur vor zwei Jahren die Szene beim ersten Mal nicht gefallen, hier auf dem Centre Court“, heißt es in einer deutschen Tageszeitung. Und tatsächlich erscheint Becker bei der Wiederholung gefaßt und locker zugleich, er macht gute Figur bei der Verbeugung vor dem Publikum und der königlichen Box. Er winkt seinen treuesten Fans auf den Stehrängen zu, dann folgt der letzte Blick als Spieler in das Tennis-Heiligtum – und der endgültige Abgang. „Ich habe mich langsam von der Droge Tennis entwöhnen können, die Abhängigkeit von den starken Erlebnissen auf dem Centre Court reduziert“, sagt er später.
Klare Pläne für die Zeit danach
Tränen fließen nicht bei
diesem Schlußakt. Becker verspürt, das gibt er zu Protokoll, „eher einen
inneren Frieden, heil aus diesem Geschäft rausgekommen zu sein.“ Was
ihm noch alles bevorstehen wird in der Achterbahnfahrt seines weiter
grell ausgeleuchteten Lebens, weiß er an jenem 30. Juni 1999 noch nicht.
Er habe klare Pläne und eine Vision, „wo ich mit 40 hin will“, sagt er.
Und er kokettiert mit dem Gedanken, nun die Freiheit zu haben, „morgens
im Bett liegenbleiben zu können“: „Dieses Gut habe ich mir hart
erarbeitet.“ Und noch einmal an jenem Tag schaut er auf die große
sportliche Rechnung und ist dabei „wirklich zufrieden“: „Es hätte mehr
sein können. Aber es ist unglaublich viel geworden. Nichts, was sich der
kleine Junge aus Leimen je zu träumen erhofft hätte.“
Vieles wird
in den Jahren nach dem Tennis, nach dem Ende der „Sportart Becker“
kommen, das sich der Championspieler auch nicht zu träumen gewagt hätte.
Becker wird aus Deutschland fliehen, vor der öffentlichen Vereinnahmung
in der Heimat. Er wird Bewohner von Wimbledon, lebt lange Jahre in
einem teuren Mietshaus in der Nähe des Centre Court – bevor er wegen
seiner finanziellen Schwierigkeiten und Millionenschulden dort ausziehen
muss. Schließlich wird er ausgerechnet in London als
Insolvenzverschlepper zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, von denen
er allerdings nur acht Monate von April bis Dezember 2022 absitzt und
abgeschoben wird aus Britannien. Erst seit kurzem darf sich der jüngste
Wimbledonsieger aller Zeiten offiziell wieder schuldenfrei nennen – nach
einer Einigung mit der britischen Insolvenzverwaltung.
Viele
Jahre nach dem Ende der Karriere war Becker ein gefragter, omnipräsenter
Mann in Wimbledon. Als Kommentator für mehrere TV-Anstalten, allen
voran die alte Tante BBC, glänzte er mit Expertise und Humor für die
Fern-Seher der Offenen Englischen Meisterschaften. Wenn er von einem
Kommentatoren-Einsatz auf dem berühmten Centre Court zurück ins
Internationale Fernsehzentrum schritt, war meist alles so wie früher in
Wimbledon. Becker wurde umringt von den Fans, immer wieder stellte er
sich zum gemeinsamen Foto auf, seelenruhig schrieb er die erbetenen
Autogramme. Becker genoß die Szenerie, hatte Spaß am Kontakt zu den
Tennisfreunden. „Wimbledon ist immer die schönste Zeit des Jahres“,
sagte Becker, „das ist heute nicht anders als damals. Dieser Schauplatz
hier war immer gut zu mir, er ist mein emotionales Zuhause.“
25 Jahre nach seinem letzten Spiel wird er allerdings fehlen an der Church Road: Wegen seiner Vorstrafe bekommt er noch keine Einreiseerlaubnis. Becker hofft auf eine Rückkehr 2025, dann jährt sich der Tennis-Urknall in seinem Garten Eden zum 40. Mal.