Alexander Zverev - und dann ? Boris Becker und Barbara Rittner analysieren die Misere im deutschen Profi-Tennis

Alexander Zverev hat Tennis-Deutschland mit der Finalteilnahme bei den French Open eine Sternstunde beschert. Viel hat nicht gefehlt zum ersten Grand-Slam-Titel für den DTB im Einzel der Männer seit 28 Jahren. Der tollen Entwicklung bei Zverev steht allerdings diametral jene des deutschen Profi-Tennis gegenüber. Denn: Hinter dem Hamburger klafft eine große Lücke. Es besteht Handlungsbedarf.

Alexander Zverev - und dann ? Zieht man die ersten beiden Grand Slam-Wettbewerbe der Saison zurate, kann die Antwort nur lauten: wenig! Bei den Australian Open gingen zehn deutsche Profis - fünf Frauen, fünf Männer - an den Start. Die Hälfte schied in Runde eins aus, ab Runde drei war Zverev alleine. Ein ähnliches Bild bot sich vor Kurzem bei den French Open. In Roland-Garros waren sieben Männer und sechs Frauen im Hauptfeld dabei. Nur Jan-Lennard Struff, Tamara Korpatsch und Zverev nahmen die erste Hürde. Ab dem Achtelfinale vertrat wieder einzig der Olympiasieger aus Hamburg die deutschen Farben.

Dass Zverev ein famoses Turnier spielte, zum Auftakt Sandplatzkönig Rafael Nadal dominierte und erst in einem packenden Endpsiel an Carlos Alcaraz scheiterte, war ein Tennis-Fest für Deutschland. Gleichzeitig übertünchte der Auftritt des 27-Jährigen vieles, was im Argen liegt beim Deutschen Tennis Bund (DTB)

"Ich mache mir Sorgen", gibt Boris Becker im Gespräch mit Eurosport zu. Hinter Zverev klaffe "eine große Lücke". Die Erkenntnis ist nicht neu, die Negativentwicklung lässt sich seit Jahren beobachten - und sie stach ins Auge, weil die Fallhöhe eklatant war.

Blick auf die Weltrangliste legt Misere offen

Zwischen 2013 und 2018 gab es bei den Frauen im Einzel fünf Grand-Slam-Finals mit deutscher Beteiligung und drei Titel durch Angelique Kerber. Vier Spielerinnen (Kerber, Sabine Lisicki, Andrea Petkovic, Julia Görges) schafften in diesen Jahren den Sprung in die Top 10 der Weltrangliste. Aktuell findet sich hingegenkeine Deutsche in den Top 50 des WTA Rankings.

Bei den Männern, die in den "goldenen Jahren" der Kerber-Generation hinterherhinkten, sieht es besser aus. Zverev steht an vier, Struff an Position 35. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Deutschland mit Jule Niemeier nur eine professionelle Tennis-Spielerin in den Top 100 hat, die jünger als 25 ist - Männer mitgerechnet.

Bei den 18- bis 21-Jährigen gebe es Schwierigkeiten, sagt Becker: "Wenn sie aus dem Jugendbereich kommen, sehe ich zu wenig Gute, die sich durchsetzen können."

DTB steuert mit Leistungssportkonzept dagegen

Ob der derzeitigen Gesamtsituation war das schwache Ergebnis in Roland Garros also zu erwarten. "Das Abschneiden der deutschen Damen bei den French Open war nicht zufriedenstellend. Es zeigt noch einmal deutlich die Notwendigkeit unseres neuen Leistungssportkonzepts", teilte der Deutsche Tennisbund (DTB) auf Eurosport-Anfrage mit. Bei den Männern bewerte man den Auftritt in Paris "insgesamt positiv". Schließlich seien fünf Profis in die zweite Runde vorgestoßen und hätten damit das Vorjahresresultat übertroffen. Das erwähnte Leistungssportkonzept könnte der Schlüssel sein, um im deutschen Tennis die Wende einzuläuten."Die Herangehensweise ist gut, ich habe selbst an dem Konzept mitgearbeitet. Es wurden sieben Hauptpunkte festgelegt. Da geht es unter anderem um die Turnierlandschaft, die Turnierbetreuung, die Rolle der Bundestrainer", erläutert Eurosport-Expertin Barbara Rittner, die von 2005 bis 2024 als Kapitänin des Fed-Cup-Teams, Bundestrainerin und Head of Women's Tennis in der Verantwortung stand.

Man habe "ein tolles Konzept" mit klarer Strategie entworfen, aber: "Jetzt geht es um die Umsetzung. In meiner Zeit ist es das dritte Konzept, das wir beim DTB erarbeitet haben. Das Problem: Sie werden mal mehr, mal weniger umgesetzt. Man kann keine Spielerin und keinen Spieler am Reißbrett entwickeln. Das muss auf dem Platz passieren. Da kann das tollste Konzept in der Schublade liegen ... du musst es umsetzen", fordert die 51-Jährige und lässt durchblicken, dass es genau da hakt.

Becker: "Bei mir keine Frage des Geldes"

Becker wünscht sich überdies eine intensivere Einbindung ehemaliger Profis, einschließlich sich selbst. "Ich war schon Teamchef und Head of Men's Tennis, habe das Amt aber aus persönlichen Gründen niedergelegt. Bei mir ist es keine Frage des Geldes, ich habe das damals ehrenamtlich gemacht und würde dies auch wieder tun", betont der sechsmalige Grand-Slam-Turniersieger.Zusammen mit dem inzwischen verstorbenen Dirk Hordorff habe er einige Ideen auf den Weg gebracht, um einen positiven Trend anzustoßen. "Vergangenen Sommer hat mich dann der neue DTB-Präsident, Dietloff von Arnim, angesprochen. Er würde sich gerne mit mir unterhalten, ob ich mir vorstellen könne, wieder mitzuwirken. "Auf dieses Gespräch warte ich bis heute", erzählt Becker. Immerhin: Von Arnim hat sich zwischenzeitlich beim 56-Jährigen gemeldet. Ein erster Schritt.

Becker bringt Stich und Graf ins Spiel

Becker wünscht sich aber auch, dass andere stärker mitziehen. "Rainer Schüttler macht den Fed Cup. Das sind zwei, drei Wochen im Jahr. Das war es. Andrea Petkovic hat im vergangenen Jahr 30 Tage für den DTB gearbeitet. Das ist zu wenig. Wir haben einen Wimbledonsieger Michael Stich, eine Wimbledonsiegerin Steffi Graf. Wir haben einen Philipp Kohlschreiber, der gerade erst aufgehört hat. Angie Kerber muss man irgendwann mal ansprechen, wenn sie nicht mehr aktiv spielt", findet der Leimener, der in den 1980er-Jahren einen Tennis-Boom in Deutschland auslöste.

Rittner stimmt zu, weist aber auch auf die unterschiedlichen Rollen der Beteiligten hin: "Der Trainerjob ist klar. Da stehst du Tag für Tag auf dem Platz. Das wollen Ex-Profis normalerweise nicht leisten. Andrea Petkovic wiederum ist Mentorin beim DTB. Da finde ich, dass 30 Tage zu wenig sind. Dieses Jahr sind es bislang zehn bis zwölf Tage." Dabei sei Petkovic "so wertvoll" für den DTB, unterstreicht Rittner.

Nichtsdestotrotz komme der Intensität der Betreuung entscheidende Bedeutung zu. "Es ist wichtig, dass man ein enges Verhältnis aufbaut. Das sind junge Menschen, die auch geführt werden müssen, eine Bezugsperson brauchen." Das stehe alles im neuen Konzept, das Ende 2023 entstanden sei.

DTB wird konkret: Mehr Profis in die Top 100

Dabei schreckten die Verantwortlichen auch nicht vor konkreten Zielvorgaben zurück. Bis 2027 will der DTB demzufolge bei Frauen wie Männer mindestens fünf Profis in den Top 100 haben. Im Bereich bis Rang 500 sollen es je sechs sein, die unter 23 Jahre alt sind. Außerdem will man bei jedem Grand Slam-Event eine Spielerin und einen Spieler im Achtelfinale sehen.

2028 werden zwei Olympia-Medaillen erwartet, bis 2032 sollen dann bis zu zehn Frauen und Männer die Top 100 der Weltrangliste erreicht haben. Unter den Top 400 wünscht man sich jeweils zehn Talente im Altersbereich U21.

Digital Schooling "keine Option" für deutsche Talente

Es sind ambitionierte Vorgaben. Wohlwissend, dass Deutschland in einer wichtigen Frage einen Wettbewerbsnachteil im Vergleich zu einigen anderen Nationen hat. Es geht um das Schulsystem."Im Ausland gibt es das Digital Schooling. Eine Coco Gauff sagt, dass sie seit dem zwölften Lebensjahr nicht mehr zur Schule geht", sagt Rittner. So könnten junge Profis das ganze Jahr um die Welt reisen, an Turnieren teilnehmen und dennoch ihre schulische Ausbildung abschließen.Und hierzulande? "Ein ausschließliches Digital Schooling ist in Deutschland aufgrund des Bildungssystems keine Option", teilt der DTB mit. "Ich erwarte aber, dass die Leute im Verband sich damit auseinandersetzen und das Thema anschieben", hält Rittner dagegen. Den Trainern selbst seien in der Frage nämlich die Hände gebunden.Das Tiefdruckgebiet, das sich über dem deutschen Tennis festgesetzt hat, wird angesichts der breiten Palette an Problemen so schnell nicht weiterziehen. Ein langer Atem ist gefragt - und solange das der Fall ist, ruhen die Hoffnungen auf die ganz großen Erfolge einzig und allein auf den Schultern von Alexander Zverev.

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